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Erste Eindrücke

Ihr Lieben,

nun schreibe ich seit bald schon drei Wochen an einer Rundmail, aber es scheint sich dabei um eine unendliche Geschichte zu handeln und ich werde einfach nicht fertig damit. Daher ein neuer (und kurzer??) Versuch in groben Zügen die Erlebnisse meiner letzen Wochen und Tage zu beschreiben.

Ich habe es bis nach Indien geschafft, nachdem ich durch die Sommerakademie soviel Input bekommen habe. Das beste Wort für meine Reise: eigentlich. Eigentlich wollte ich immer nach Afrika ? jetzt bin ich in Indien, eigentlich wollte ich an einem bvmd Projekt teilnehmen, jetzt bin ich auf eigene Faust hier, eigentlich wollte ich diesmal nur im Nordosten bleiben (weil Indien ja so groß ist, wollte ich mir eine Region aussuchen) und eigentlich wollte ich in einem Krankenhaus nahe Ranchi (4 Wochen) und einem Projekt in Kalkutta (4 Wochen) bleiben. Aber meine Reise bestand aus 5h Aufenthalt in Kalkutta nach meiner Ankunft und den Rest der Zeit habe ich bisher im Süden verbracht.Eigentlich hatte ich nicht mehr vor vor dem Examen eine Doktorarbeit zu beginnen und jetzt ist meine ganze Reise zu einer Forschungsreise geworden und mein Thema ist ?Quality standards of rural hospitals?. Eigentlich hatte ich nicht vor in die Patientenversorgung zu gehen, aber jetzt bin ich doch wieder schwer am überlegen, weil Medizin hier so etwas anderes ist, als ich es bisher kannte. Und eigentlich ist das alles sehr seltsam, aber ich bin glücklich damit.

Meine Reiseroute sah bisher folgendermaßen aus:

Ankunft in Kolkata (5h Aufenthalt), Weiterflug nach Chennai (ein Tag aufenthalt bei einer sehr freundlichen indischen Familie), Weiterflug nach Coimbatore, von dort nach Karunya und einen Tag dort bevor es nach Oddamchatram (Tamil Nadu) weiterging, wo ich für eine Woche in einem Missonary Hospital blieb. Dann Reise nach Kollam(Kerala)  (einmal quer durch den ganzen Süden) und dort für  einen Tag für eine Konferenz, über Nacht zurück nach Karunya (Tamil Nadu), dort eine Woche für ein Screening Workcamp auf urologische Probleme. Jetzt bin ich auf dem Weg nach Pune und einen mirkroskopisch kleinen Ort: Dondaicha.

Ja, man sollte eine große Vergrößerung bei google Maps wählen um die meisten erwähnten Orte sehen zu können, denn sie sind vor allem eines: klein. Die Reise hat sich so ergeben, da mein Ansprechpartner, Dr. G,  für die Doktorarbeit hier in Indien selbst alle 2 Wochen den Arbeitsplatz zwischen Nord ? und Südindien wechselt und ich einfach mitkommen durfte. Es gibt hier in Indien eine Association of rural surgeons und nachdem ich bei deren Treffen in Kollam war, bekam ich von verschiedenen Chirurgen die Einladung auch ihre Krankenhäuser zu besuchen. Somit werde ich noch nach Pune (Maharaschtra) und Delhi kommen und damit am Ende meiner Reise Indien einmal umrundet haben, wenn ich dann wieder in Kolkata zurück bin.

Das erste Krankenhaus wo ich war, ist ein Missonary Hospital. Eine eindrucksvolle Erfahrung für mich. Zuerst war ich kritisch, wie sich der missionarische Anteil bemerkbar machen würde, aber das war absolut ok. Morgens eine kurze Andacht, ein Gebet vor jeder OP und sonst kam das Thema auf, wenn sich jemand dafür interessiert. Aber hier wird niemand penetrant bekehrt und es werden Patienten aller Religionen behandelt und auch die Angestellten haben unterschiedlichen religiösen Background. Das ist ganz nett, wenn der hinduistische Chirurg vor der OP dann die Anästhesieschwester bittet das Gebet für den Patient zu sprechen, weil das hier eben zum Standart gehört. Schwer beeindruckt hat mich die große fachliche Kompetenz und die hohe Qualität der Arbeit hier. Natürlich alles unter ?einfachen? und ?beschränkten? Bedingungen, aber wirklich vieles ganz den internationalen Guidelines entsprechend, die ich so aus dem Studium kenne. Manche Ärzte hier könnten an einem großen privaten Krankenhaus bis zu 80 % mehr verdienen, aber sie bleiben, weil es ihrem ?Call? entspricht. Sonst sähe in diesem Gebiet die Krankenversorgung ziemlich mau aus. Wer es sich nicht leisten kann, der bekommt die Behandlung zum teil auch kostenlos. Dabei finanziert sich das Krankenhaus nur über die Einnahmen der Patienten und nimmt keine Spenden von außen an. Damit will es sich die Unabhängigkeit bewahren und es funktioniert auch tatsächlich, auch wenn es mich ziemlich staunen ließ, denn es ist kein ganz kleines Krankenhaus, besitzt sogar Blutbank, Histopathologie, Gyn, Chirurgie, Psychiatrie, Pädiatrie, Innere, HNO, Zähne, Haut. Ok, manchmal gibt es nur einen Doktor für ein Fachgebiet, aber immerhin?Die gesamte Woche habe ich in der Chirurgie verbracht und wahrscheinlich mehr gelernt als je zuvor in einer Woche. Die Ärzte sind sehr bestrebt Wissen und Können zu vermitteln und wenn man hier länger bleibt bekommt man eine richtig gute Ausbildung. Es viel mir schwer hier wieder wegzugehen und ich bin so vielen Schicksalen in kurzer Zeit begegnet: dem Jungen, der auf der Straße übernachtet hatte und von einem Auto überrollt wurde, der alten Frau, die für das Ein ? und Auskommen der Familie zuständig ist, weil der Mann krank ist und nun selbst einen Faustgroßen Tumor am Hals hat, dem Mann, der mit einer Peritonitis kam, die er schon seit drei Tagen mit paramedizinischen Methoden zu heilen versuchte und zu arm ist die Operation zu bezahlen.

Das war der Fall, der mich am stärksten bewegt hat. Denn es war lange nicht klar, ob wir ihn nach Hause schicken müssen, wenn er die Behandlung nicht bezahlen kann. Die Frau war so verzweifelt und erschüttert und ich saß mit Tränen in den Augen da, weil es in der Tat sehr aussichtslos aussah. Der Patient selbst war etwas apathisch, aber ich wäre nie auf die  Idee gekommen, dass er eine Peritonitis haben könnte, er gab kaum Schmerzen an und war recht gefasst und überlegt. Die Menschen hier müssen eine unheimliche Leidensfähigkeit haben. Wie sagte der eine Chirurg so schön: das ganz Leben ist ein Schmerz für die Leute hier. Ob es tatsächlich so ist, kann ich schwer sagen, aber sie sind sicher ganz anders gewohnt an Schmerz, Belastung und Arbeit als ich mir vorstellen kann. Es dauerte einen qualvollen Nachmittag bis klar war, dass der Patient die Behandlung kostenlos bekommen würde inkl. dem nötigen stationären Aufenthalt nach der OP. Der Nachmittag und das Warten auf die Entscheidung ging mir sehr nahe und es war Anlass mich damit auseinander zu setzen inwieweit ich durch Geld helfen könnte. Wahrscheinlich hätte ich die Behandlungskosten übernommen, wäre die Entscheidung anders ausgefallen. Aber wenn ich mir überlege, dass es ein einziger Fall war und an diesem Nachmittag noch fünf andere Leute da waren, die sich nicht in ausreichendem Maße eine Gesundheitsversorgung leisten können, dann wirkt diese Entscheidung extrem irrational. Um 22h war endlich die OP, es ging alles gut und trotz des kritischen Kommentars des Doktors ?Jetzt muss er nur noch die Zeit danach überleben? war für mich erst einmal eine Erleichterung spürbar. Es war erstaunlich zu sehen, wie schnell sich der Patient erholte, nachdem er zwei Tage beatmet war. Ich versuchte mir vorzustellen, wie lange dazu wohl jemand in Deutschland nach diesem Eingriff gebraucht hätte. Diese Menschen scheinen in vielem wirklich zäher zu sein, selbst wenn die Gesundheits ? und Ernährungslage nicht die Beste ist. Die Woche hier gab mir viel zu denken und immer wieder kam die Frage: ?Und wie ist das in Deutschland? Wie würdet ihr das behandeln?? ? Sowas hast Du in Deutschland wohl noch nie gesehen!? Manchmal hab ich mich geschämt, wenn ich dann ausführen (musste) wie es in Deutschland ist und was für ein ?Luxus? das auch manchmal ist.

Einiges an Kontrast bot mir dann das nächste Krankenhaus in Karunya. Es ist ziemlich klein, versorgt vor allem die Studenten aus der angrenzenden  Universität und ein bisschen die Landbevölkerung. Seit 5 Jahren gab es dort keine OPs mehr und jetzt soll das Krankenhaus wieder richtig aufgebaut werden. Dr. G.  hielt hier für 3 Tage ein für die Leute kostenloses (urologisches) Screening Camp ab. Die Leute kamen aber mit so ziemlich allen Beschwerden. Das Camp war eine interessante Erfahrung um zu sehen, wie chaotisch-funktionsfähig etwas sein kann. Eine Menge an Studenten war gekommen um die Datenregistrierung der Patienten zu übernehmen. Die Krankenschwestern waren ungemein gestresst, da es das erste Camp war, das es gab, zugleich wurde der OP Saal wieder funktionsfähig gemacht und gleichzeitig ein neues Computerprogramm für die Datenerfassung implementiert.

Meine Aufgabe war es die Daten der Patienten zu erfassen und eine kurze Anamnese zu erheben. Dabei war schnell klar, dass ich keine Zeit haben würde für eine ordentliche Infoerhebung. Es blieb bei: was sind die Beschwerden und wichtige Vorerkrankungen / OPs. Die Patienten verstanden sowieso nicht so recht, warum ich so viele Fragen stellen wollte, wenn ich doch nicht der Doktor bin. Die Studenten halfen mir bei der Übersetzung und ich weiß nicht wie viel Information zwischen der Aussage des Patienten und mir verloren ging allein durch die verschiedenen Sprachbarrieren. Der erste Tag war extrem chaotisch: ich vor einem unbekannten Computerprogramm und immer noch mit Verständigungsproblemen in Englisch, das ganze Personal in Hektik, der Doktor, der nur wenig Infos u. Anweisungen gab und eine Unmenge an Studenten, die alle etwas tun wollten, aber nur eine Krankenschwester, die  etwas Überblick hatte, zugleich aber dem Arzt assistieren musste. Aber tatsächlich war es ein sich selbst organisierendes System, denn am nächsten Tag wurde es übersichtlicher. Nur die Datensortierung am Schluss und die Endauswertung der Daten war ein Papiersalat wie ich ihn bisher noch nicht gesehen habe. Abwechselnd suchten wir das gesamte Krankenhaus nach den verschiedenen fehlenden Datenblättern ab und mein Wunsch nach etwas Struktur, Koordination und Organisation wuchs stündlich. Daher begann ich irgendwann kleine Papierdatenstapel zu bauen,  und ein bisschen zu sortieren, aber bei der Menge an Leuten, die zugleich irgendwas suchten oder aufschreiben mussten, war das ein sehr kurzlebiges Ergebnis. Ich nehme an, dass das nächste Camp besser organisiert sein wird, da die Unzufriedenheit des Personals recht ausgeprägt war.

Es fanden dann auch tatsächlich die ersten Cystoskopien statt, doch bzgl. Hygienischer Standards und sterilem Arbeiten musste ich schon öfters schlucken. Ist ja auch klar, wenn die Schwestern seit Jahren oder vielleicht noch  nie im OP standen. Auf jeden Fall war es ein guter Kontrast zu dem vorigen Krankenhaus und gibt mir eine Idee, bei welchen Basisdingen ich für die Krankenhausstandards anfangen kann. Insgesamt sind die Patienten bemerkenswert duldsam ? sie haben ja auch keine andere Wahl. Doch es fällt mir nicht leicht die verzerrten Gesichter zu sehen,  wenn kleine Eingriffe nur mit lokaler Betäubung durchgeführt werden oder Cystoskopien eben etwas länger dauern und komplizierter sind. Auch mussten etliche Patienten am 2 Camptag den ganzen Tag warten und am Nachmittag entschied der Doktor den OP Saal zu eröffnen, worin er dann auch bis zum Abend verschwand. Die Patienten wurden irgendwann heim geschickt und sie kamen am  nächsten Morgen wieder und mussten bis zum Nachmittag warten. Ich weiß nicht ob das zu Deutsch ist, aber da würde ich den Patienten schon wünschen, dass es ein effektiveres Arbeiten gäbe. Da auch die Studenten empört waren, da sie über Stunden hinweg die Leute vertrösten mussten, scheint es nicht nur meine europäische Vorstellung von Organisation zu sein.

Nachdem die ersten Tage in Indien teils recht schrecklich waren, da ich mir unheimlich schwer tat das indische Englisch zu verstehen und plötzlich auch nur noch einen rudimentären aktiven Wortschatz hatte, ist es inzwischen doch um  einiges besser. Immer noch würde ich sagen, dass die Sprache ein Hindernis für mich ist und des öfteren komme ich mir ziemlich blöd vor, aber es zeichnet sich eine Besserung ab. Leider bin ich untalentiert, was indische (Orts-) Namen und tamilische Worte betrifft und somit ist jede Essensbestellung erstmal wieder eine Herausforderung, bis ich wieder zusammen habe, wie die Dinge heißen, die ich gerne hätte und ich muss ganz oft nachfragen, wie denn nochmals der Name meines Gegenübers war ? plötzlich bin ich sehr dankbar, wenn dann jemand so einen einfachen, bekannten Namen hat wie Violin oder Joy.

Ich hab mal gelesen, man würde Indien lieben oder hassen, aber es würde einen nicht unberührt lassen. Von Anfang an hab ich Indien gemocht und es ist in der Tat so, dass mich die Zeit hier in einer Weise berührt und fordert  wie ich es nicht kenne. Zum einen passieren mir zwar viele wirre und peinliche Dinge, aber dann gibt es auch wieder diese unglaublich schönen Momente im Kontakt mit den Menschen hier. Der Tag an dem ich innerhalb von einer halben Stunde sechs Mal nach dem Passwort für das Computerprogramm fragen musste (aber auch nicht auf die Idee gekommen wäre es mir einmal aufzuschreiben) dürfte wohl mit zu meinen Glanzleistungen gehören und ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ok, ich war auch übernächtigt, nachdem ich in einem  Sleeper Bus die Nacht über von Kollam nach Coimbatur gefahren war und die Straßen viele, viele Löcher haben, die ich auch alle  spüren konnte?. Aber bei einigem sitze ich manchmal da und erkenne mich selbst nicht wieder: gab es nicht mal Zeiten, als ich geplant und strukturiert gehandelt habe? ? muss lange her sein?. J

Seit neuestem habe ich nun eine Nebenhöhlenentzündung. Der erste Morgen an dem ich aufgewacht bin und Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und subjektives Fieber hatte bin ich furchtbar erschrocken: Hilfe, was ist es: Malaria, Dengue, Chikungunjia???? Muss ich ins Krankenhaus? Gibt es noch eine Rettung??? ? Ok, ich habe festgestellt, es ist genau das gleiche, was ich von zuhause kenne, nix ausgefallenes. Trotzdem ekelhaft mit einem Wattekopf bei 30 Grad durch die Gegend zu laufen und nicht zuträglich für die Konzentrationsfähigkeit. Dafür ist mein Magen stabil, aber wahrscheinlich hab ich als Kind einfach genug Erde, Gras und Käfer gegessen J

Es gäbe noch soviel zu erzählen, von den Krankheitsbildern hier, von dem Studiensystem in Indien und der Medizinerausbildung, vom dem Gesundheitssystem und den traditionellen Heiratsbräuchen, von den Wechsel in den Gesellschaftsnormen, den unterschiedlichen Religionen und den unterschiedlichen Mentalitäten der verschiedenen Regionen hier und den traditionellen Heilern in Indien. Heute sind es drei Wochen, dass ich hier bin und es ist das Erste Mal, dass ich Zeit habe inne zu halten, ohne dauernd neuen Input zu bekommen. Ich sitze in Bangalor am Flughafen ? 4h Aufenthalt und es ist zu Weit um bis in die Stadt zu kommen. Warum bin ich eigentlich nicht schon früher ins Ausland?? Es ist eine unbeschreiblich bereichernde und angefüllte Zeit und Deutschland ist extrem weit weg, ich könnte im Moment noch nicht sagen, dass mir irgendetwas fehlen würde. Was ich auf jeden Fall mitnehmen werde ist die Erfahrung, wie es ist irgendwo Fremder zu sein. Und wie es ist, wenn man dann Menschen findet, die einem helfen und einen unterstützen. Die Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft ist hier sehr bemerkenswert und auch die Selbstverständlichkeit, mit der ich überall aufgenommen werde. Ich hoffe sehr, dass ich all das, was ich hier so selbstverständlich geschenkt bekomme, auch einmal weitergeben kann.

Seid herzlich gegrüßt, aus einem Land voller Gegensätzen und voller Leben.

Katharina
2.02.2010

Und weiter geht es nach Pune