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Original erschienen unter matti.de.tl it freundlicher Genehmigung von Martin Wendland. Weitere Infos direkt bei Martin Wendland email: habibi_frida(at)yahoo.de
 

  English version: 
http://www.matti.de.tl/Report-from-India-2007.htm

Realität statt Famulatur

 
4 Wochen im Emergency-Camp Sewa Ashram, Delhi ? Klinik und Auffanglager für die Unberührbaren Indiens 

 
Foto (1)

?Namaste? rief mir der Junge freundlich zu. Er hatte eine Krücke unter dem rechten Arm, und sein Bein war in einer Schiene eingegipst. Fröhlich humpelte er auf mich zu, um anschliessend seine Hände senkrecht auf Nasenhöhe zu halten. Namaste ? Willkommen auf Hindi.
 
Ich war endlich angekommen  in ?Sewa Ashram?, einem Camp, das sich als Stätte der Zuneigung und Genesung für die Ärmsten versteht.
 
Die ganze Nacht über war ich mit dem Zug von Mumbai nach Delhi gefahren, anschliessend mit einer Auto-Rikschah fast 2 Stunden durch die Stadt in einen der vielen Vororte gefahren -
2 Stunden durch Lärm, Dreck, Umweltverschmutzung und Menschen. Menschen über Menschen. Delhi war noch chaotischer als Mumbai. Meine Lungen schmerzten, und am ganzen Körper zitterte ich.
 
Jetzt stand ich in einem kleinen Paradies: Eine kleine Klinik, ein paar Hütten, und eine kreisrunde überdachte Fläche (dem ?Circle?), unter der ein paar Betten angeordnet waren, ein Feld und eine park- oder gartenähnliche Bepflanzung.



Foto (1) oben: Der ?Circle?.
Foto (2) unten: Ton ?Tonbaba? (der Gründer, links) bei der Begutachtung einer neuen Bepflanzung mit Harish, einem der wichtigsten Mitarbeiter des Camps, im Hintergrund blau angestrichen die Hütten für die Mitarbeiter
 
Hinten am anderen Ende ein schilfgedecktes Gebäude, in dem sich ein kleiner Altar und ein paar hinduistische Gottheiten befanden.
 
In eine der Hütten bekam ich ein Zimmer, in dem man fast schon das Gefühl eines Indiana Jones bekommen konnte. Vor der Tür Bananenbäume und ein alter Holztisch.
 
 
Wenn ich mich dem ?Circle? näherte, so verliess mich allerdings der paradisische Vergleich:
Viele Menschen, die meisten von schweren Erkrankungen gezeichnet, viele mit amputierten Beinen, die in ihren Betten lagen, oder an Spinnrädern als Beschäftigungstherapie sassen.
 
In der kleinen Klinik sah es nicht viel besser aus. In alten ausrangierten Krankenhausbetten lagen unter unzähligen Ventilatoren schwerstkranke Patienten. Im Behandlungsraum eine Liege, Schränke und allerlei Geräte ? gesponsort aus aller Herren Ländern.
 

Foto (3): Eingang zur kleinen Klinik

Als ich eine Schublade auszog, entdeckte ich das Chaos pur: alle Ampullen lagen bunt durcheinanden, man konnte überhaupt nichts finden.
 
Der Staub sammelte sich in den Ecken, und die Geckos huschten nur so umher.
 
Dennoch: Mit der Ausstattung und den Möglichkeiten die hier vorhanden waren, war es
hier ausgesproche reinlich ? im Indischen Vergleich natürlich.
 
Es gab nur eine handvoll Mitarbeiter. Zwei indische Krankenschwestern, deren Arbeitsmoral manchmal etwas darniederlag, ansonsten westliche Laien -mit Erfahrung- und vor allem ehemalige Patienten. Aufgrund dieser Zusammensetzung war das soziale Gefüge eine hochangespannte Mischung.
Einen Arzt gab es nicht, nur alle 3-4 Tage kam mal ein freiwilliger Doc vorbei, der sich die Krankenakten und ein paar Patienten anschaute.
 
Trotzdem ein Paradies für die Schwächsten der Gesellschaft!


Foto (4): Ein Patient im ?Circle?
 
 
?Please come doctor!?
 
Als ich ankam blieb mir nicht viel Zeit zur Eingewöhnung. Trotz aller Beschwichtigungen, dass ich nur ein Student sei, wurde ich voll eingebunden. Ich musste Entscheidungen treffen, für die ich gefühlsmässig noch nicht so weit war, und Sachen machen, die ich wahrscheinlich nie wieder machen werde.
 
Allerdings blieb keine andere Wahl. Die Menschen starben so oder so, oder regenerierten sich, da hatte mein dazutun wenig Auswirkungen.
 
?Noch vor einigen Monaten sah es hier noch viel schlimmer aus, wir wussten gar nicht was wir zuerst machen sollten? sagte ein Schweitzer, der hier hängengeblieben war.
 
Auch jetzt war es knallhart: wer die Medikamente auch wirklich einnahm und vertrug, der überlebte, wer nicht, der blieb auf der Strecke. Und das auch ziemlich schnell.
 
Neben den Tuberkulosekranken und HIV-Patienten gab es sehr viele orthopädische Patienten. ?Zustand nach Amputation? hätte man in unzählige Akten schreiben können.
Ich habe noch nie so viele verstümmelte Gliedmassen gesehen, amputierte Menschen, die mit etwas Glück ein paar Krücken besassen oder gar einen Rollstuhl. Wer Pech hatte, kroch auf dem Boden herum. Hier im Camp musste das niemand, aber draussen?
 
 
Meistens verletzen sich die Menschen bei der Arbeit, im Strassenverkehr oder bei ganz banalen Unfällen. Aus den verdreckten, schlecht heilenden Wunden der schlechternährten Menschen entwickeln sich dann meisten unkontrollierbare eitrige Geschwüre. Ganze Fleischteile, Hautfetzen werden nekrotisch und lösen sich. Anschliessend setzen sich Maden in das nekrotische Gewebe und fressen es bis auf den Knochen runter.
 
Wenn diese Patienten überhaupt eine Behandlung erfahren, dann nur eine stümperhafte, die ihnen oft noch mehr Probleme bereitet als sie so schon haben.
 
Ist ein Bein gebrochen, dann wird einfach ein Gips drumgeknallt. Egal, ob die Knochen vielleicht völlig verschoben sind, egal ob es ein offener Bruch ist, egal dass die Haut unter dem Gips infiziert und verletzt ist.
 
?Helocopter? ist so ein Beispiel. Aufgrund einer Verletzung am Knie wurde sein Bein einfach durch einen Gips gepackt. Da er sich durch die ungünstige Konstruktion nur mit kreisenden Arm- und Beinbewegungen fortbewegen kann, bekam er so seinen Spitznamen.


Foto (5): ?Helicopter? in seiner spezial-Rikscha. Sein linkes Bein ist versteift.

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Fotos (6,7): Mords-Gaudi auf seiner Rikscha zu dritt mit Gerwin aus Holland
 
 
Nach mehreren Monaten im Gips (ohne Wechsel zwischendurch) ist sein Kniegelenk jetzt nicht mehr beweglich?
 
Was so etwas aber in einem Land wie Indien bedeutet, kann man sich als westlicher Wohlstandmensch kaum ausdenken.
Wer in Indien einen Fuß, ein Bein, oder Arm verletzt, der ist ganz schnell zur bittersten Armut und zum Tode verurteilt ? auch wenn die Wunden abheilen.
Wer nicht laufen kann, kann auch nicht arbeiten. Somit verliert er die wenigen Rupies als Einnahmequelle ? der Teufelskreis nimmt seinen Lauf.
 
 
 
?Fast tot? Kommen Sie doch morgen wieder!?
 
Ich begleitete oft Patienten in die Krankenhäuser. Jedesmal bedeutete es für alle Beteiligten einen Kraft-und Balanceakt.
 
Mit einem Ambulanzwagen fuhren wir die 30km bis nach Delhi rein in 1, manchmal auch 2 Stunden. Mitten durch den dicken Verkehr.


Foto (8): Fahrt ins Krankenhaus
 
Auch bei Notfallpatienten machte niemand dem Krankenwagen mit ?Tatütata? platz ? Blaulicht, Ampeln?. Is doch nur zur Dekoration, oder? Und wen stört es schon, wenn ein armer Mensch in einem Krankenwagen stirbt? - SO kam es mir oft vor, sogar im Krankenhaus.
 
Die Ärzte ?chronisch überlastet- meistens genervt, die Krankenhäuser dreckig und in den Betten manchmal 2-3 Patienten.
Das war der zweite Kulturschock, den ich erlebte.
 
Krankenhäuser ? Orte an denen Menschen genesen sollen, in denen Menschen gerettet werden. So dachte ich eigentlich immer. Nicht aber in Indien.


Foto (9): Onkologie im Lok-Nayak-Hospital, Delhi
 
Hier wird das Leiden gegen Geld mehr oder weniger verwaltet und hin- und hergeschoben.
Bis ein Patient endlich stationär aufgenommen wird, kann er schon mehrfach gestorben sein. Die Krankenhäuser sind überfüllt, und wie der Strassenverkehr ständig in der Gefahrenzone eines Kollapses.
 
Ein Gang zum Krankenhaus gestaltet sich in den meisten Fällen zu einem Hürdenlauf. Zuerst muss der Patient zur OPD (out-patiens-department), wofür er sich in mindestens 2 Schlangen anstellen muss, um wieder von Tür zu Tür geschoben zu werden.
Die wartenden Menschen sind gereizt, zuweilen aggressiv und ein schwacher kranker Mensch hat in der Regel schlechte Karten alleine den Kampf aufzunehmen. Wer in einen Behandlungsraum möchte muss sich mit aller Kraft durch eine Menschenmenge durchdrängeln, ansonsten kann es sein, dass er trotz Registrierung einfach nicht mehr drankommt. Die Luft ist schlecht, es ist heiss und nur ein paar Ventilatoren sorgen für etwas Linderung.




Fotos (10,11): Sauberkeit wird gross geschrieben in indischen Krankehäusern?
 
Oft fällt in Delhi der Strom aus, auch in den Krankenhäusern Dann stehen die Menschenmassen im Dunkeln in diesen manchmal verliesähnlichen Bunkern, die sich Krankenhäuser schimpfen.
 
Ist man endlich mal im Doctor?s room heisst es wieder warten. Meist sitzen mehere Docs um einen grossen Tisch herum und behandeln gleichzeitig mehere Patienten ? Datenschutz, Schweigepflicht, Privatspäre?.was ist das?
 
Dann ist man endlich dran, und wenn man Glück hat wird man nicht wieder nach Hause geschickt. Glück?


Foto (12): Dunkle Gänge, eng, stickig, überfüllt (hier: ein ruhiger Moment mit sehr wenig Menschen)
 
Meistens erklären die indischen Ärzte den Patienten NICHTS! Die einfachen Bürger haben meist überhaupt gar kein Wissen über Gesundheit und Medizin. Keine Werbung, keine Gesundheitsmagazine, nichts ? zumindest für die Ärmeren nicht.
 
Wenn man dann ?Glück? hat aufgenommen zu werden, dann geht der Marathon weiter zur entsprechenden Fachabteilung. Und wenn die dann noch Kapazitäten und Lust haben, dann ist der Patient vielleicht stationär aufgenommen. Glück für den, der sein nicht besonders sauberes Bett nicht auch noch teilen muss?
 
Auch wenn man die Patienten nur begleitet, so beschleicht einen ein bedrückendes Gefühl von Leiden, Tod, Dreck und Willkür. Diese Häuser sind so grausig, sodass wir sie einfach in ?Auschwitz? umbenannten. Das klingt moralisch komisch, man kann aber nicht mehr anders, wenn man die Menschen dort so leiden sieht.
 
An einem Nachmittag brachte der Krankenwagen einen sterbenden Mann. Wie immer nichts als Knochen und Haut. Er war unter einer Brücke gefunden worden, in einem sehr schlechten Zustand.
 
Als er in einem Rollstuhl in die Klinik geschoben wurde war er bereits im Begriff zu sterben.
 
Mit Müh und Not gelang es uns Zugänge zu legen, Sauerstoff usw. So konnten wir ihn tatsächlich stabilisieren.
 
Um sein rechtes Bein war eine Plastikplane gewickelt. Nachdem er stabil war, entfernten wir die Plane, und ein gewaltiger Gestank kam uns entgegen.
Das gesamte Bein war vom Fussknöchel bis über das Knie weggefault! Man konnte die Tibia erkennen, und sogar die Menisci!
In dem restlichen herumhängenden Fleisch tummelten sich die Maden, sodass dies eher eine sich bewegende Masse war. Es war ein grausamer Anblick. 


Foto (13): Mein holländischer Kollege Gerwin beim Patienten
 
Wie konnte dieser Mensch bis dahin überleben?
 
Am Abend brachte ich den Mann mit einem anderen Patienten ins Krankenhaus. Die anderen wetteten mit mir, dass ich es nicht schaffen würde, dass dieser und ein anderer Patient mit (wahrscheinlich) akutem Blinddarm, aufgenommen würden.
 
Ich war froh, dass er die Fahrt nach Delhi überlebte. Als wir in der Notaufnahme ankamen, und ich die Situation geschildert hatte, sagte der diensthabene Notarzt zu mir ?Come tomorrow!? !!!!
 
Es war unfassbar! Nach einigem diskutieren gelang es mir aber ihn zu überzeugen, beide Patienten aufzunehmen.
 
Die Laborergebnisse bestätigten die drastische Situation: septischer Schock.
 
Die drei jungen Chirurgen, die sich den Patienten betrachteten, sahen allerdings keinen dringenden Handlungsbedarf. Sie standen da, und spielten scheinbar mit den Maden.
?We can keep him for one week, he will get antibiotics and then we will see? sagten sie lächelnd.
 
Unvorstellbar! Im Endeffekt spekulierten sie auf die Einnahmen, die ein einwöchiger Aufenthalt bringen würde. Wahrscheinlich würde der Patient sowieso sterben, aber so würde man wenigstens noch etwas Geld rausholen können. So jedenfalls erklärten es mir die anderen Mitarbeiter, die schon jahrelange Erfahrung haben?
 
Die Notwendigkeit diesen septischen Herd zu entfernen sahen die drei nicht. Stattdessen versuchten sie mir medizinischen Unsinn zu erzählen, den jedes 3-jährige Kind in Deutschland durchblicken kann ?He is fine?.
 
Ich liess es mir nicht nehmen, mit den drei Docs ein Wortgefecht zu führen ? hier ging es nicht um meinen Stolz, sondern um das Leid des Patienten. Anscheinend völlig unbekannt.
 
Müde aber happy fuhren wir nach Hause. Ich hatte nichts weltbewegendes geleistet, keine Menschen spektakulär und fachmännisch gerettet, keine Heldentat vollbracht?. Aber meine Wette gewonnen! J
 
  
Mit Terpentin auf Madenjagd
 
Mein Alltag wurde geprägt vom morgendlichen Verbandswechsel. Jeden Morgen mussten über 20 Patienten versorgt werden, einige hatten mehr als 1 oder 2 Wunden.
Einen Grossteil nahmen die Beinamputierten ein, deren Beinstümpfe sich entzündet hatten.
 
Geradezu angenehm, wenn es mal kein stinkendes Gangrän war.
 
Dann sass ich vor einem doppelt beinamputierten Mann, und versuchte mit Kraft den Eiter aus seinen Abszessen zu drücken.
 
?Beeindruckend? waren auch die noch nicht amputierten Beine: mit dem Verband löste sich dann meist schon eine dicke Eiterschicht und liess blutige, bis auf die Fascie freigelegte Füße erkennen. Wahnsinn! Zum einen der Gestank, zum anderen dieser Anblick. Das letzte Mal hatte ich so etwas im Präp-Kurs gesehen, aber wie diese Menschen solch höllische Schmerzen ertrugen, ohne Selbstmord zu begehen ?. Einfach unfassbar! Woher diese Menschen den Mut nahmen jeden Tag von neuem zu beginnen,?
 
?Schaut doch gut aus? meinte mein Schweitzer Kollege, und meinte damit die rosig, etwas blutige Wunde am Fuss. Tatsächlich war kein Eiter mehr zu sehen, das Gewebe vital. Naja, begeistern konnte ich mich nicht wirklich, zumal die Wunde eine riesige Fläche von den Zehen bis zum Sprunggelenk umfasste! Naja, vielleicht hatte er von einem schweitzer Fondue geträumt?
 
Im Gegensatz dazu hatte der nächste Patient noch einiges vor sich. Wegen einer Kopfverletzung und dem Leben auf der Strasse, hatte er eine massive Infektion der Kopfhaut bekommen. Nach dem Haareschneiden konnte man das Ausmass erkennen: die gesamte Kopfhaut war geschwollen, und an der linken Seite ein grosses Loch.
 
Unter der Oberfläche musste sich eine massive Entzündung abspielen, es schimmerte Gelb durch die Haut. Ich wusste gar nicht wo ich anfangen sollte. Aus dem grossen Loch fischte ich Eiter und Maden, wobei der Patient furchtbare Schmerzen hatte.





Foto oben (14): Erstbehandlung bei der Ankunft in der Klinik
Foto unten (15):  Nach knapp 2 Wochen war die Entzündung deutlich zurückgegangen ? Dank Terpentin!
 
 
Wir machten einen Terpentin-Verband, und nach wenigen Tagen konnten die toten Maden aufgesammelt werden und die Entzündung war fast verschwunden!
Unfaßbar! Terpentin!
 
Da er aber schon einen Tremor hatte (Kopfwackeln usw.), wollte ich ihm gerne Antibitika geben, die auch ins Gehirn gelangen? Pharma? Wie war das noch mal?
 
 
Von AIDS, Vergewaltigungen, Religion - Schicksale
 
Viele Patienten waren HIV und TB-krank. Die meisten lebten auf der Strasse und waren nicht mehr in der Lage, sich selbst zu helfen. Normalerweise ein sicheres Todesurteil in Indien.
 
Ich hatte diesen Ort gewählt, um nicht nur etwas über Medizin zu lernen. Ich wollte wissen, wie diese Menschen leben, was sie bewegt.
 
In der Uni hat mich Sozialmedizin und Prävention mehr als gestört. Es waren narkotisierende, ja schon hyperästhesierende und psychisch traumatisierende Fächer. Doch in Ländern wie Indien lernt man die Bedeutung kennen.
 
Die Verknüpfung zwischen Medizin und sozialer Struktur wird einem tagtäglich mitunter auf brutalste Art und Weise nahegebracht.
 
Hier in Indien lernte ich mit jedem Patienten auch ein Schicksal kennen. Mehr als die dramatischen Verstümmelungen und Wunden haben mich die persönlichen Leidensgeschichten der Menschen geschockt und betroffen gemacht. Diese Brutalität die es in dieser Gesellschaft gibt ist meiner Meinung nach beispiellos.
 
Eine amerikanische Mitarbeiterin, die bereits in den Slums von Nairobi und Uganda gearbeitet hatte, sagte mir ?Dort sind die Menschen auch arm, es gibt auch Leid, Brutalität, aber nicht so schlimm wie in Indien?


Foto (16): Indiens neue Mittelschicht - mit high-speed ?.


Foto (17): ...vorbei an der Armut
 
 
In diesen Ländern gibt es ein soziales Restgefüge, das in Indien anscheindend vielerorts verottet ist.
 
Zu viele Menschen lassen den Wert eines einzelnen (zumal armen) sinken. 200 Millionen Inder führen ein sehr gutes Leben oder eines wie die meisten Menschen in Europa.
 
800 Millionen Menschen gehören der Unterschicht an. Nicht alle leben in Slums, aber eine kastenbedingte Wertigkeit und Rangfolge gibt es auch hier.


Foto (18): Shopping-Mall ?Inorbit?, Mumbai
 
 
Zwischen der oberen und der unteren Grenze der Unterschicht gibt es eine Vielzahl von Zwischenschichten, an unterster Stelle stehen dann die ?Unberührbaren?.
Deren Leben hat de facto gar keinen Wert, und niemanden stört es wenn ein Mensch verreckt, haben doch auch die anderen Gruppen dieser Schicht nur geringe Chancen.
 


Foto (19): Keine Müllhalde, sondern Lebensraum für Familien
 
Während hierzulande auf der Strasse lebende Menschen eine deutliche ?wenn auch nicht zu vernachlässigende- Minderheit darstellen, so ist es in Indien ein Massenphänomen. Man fährt mit dem Taxi kilometerweit an Plastikplanen vorbei, unter denen ganze Familien leben. Die Kinder spielen auf der Strasse im Dreck, ?duschen?, kochen mit dreckigem Wasser, schlafen dort ? bei 30°C wie im massiven Monsunregen, der die Fäkalien die Strasse entlangspült.
 
Allgegenwärtig ist die Präsenz von harten, i.v. gespritzte Drogen. Neben dem ungeschützten Geschlechtsverkehr ein extrem wichtiger Faktor für die rasche Ausbreitung von HIV.
Mehr als 5 Millionen infizierte Menschen gibt es in Indien! Besonders in den östlichen Landesteilen sind Drogen der Hauptgrund, sind doch die Drogenanbaugebiete Burmas und Thailands nicht weit weg.



Foto (20): Ein Junkie setzte sich einen Schuss vor einem Tempel
 
In unserem kleinen Weg gab es zwei Hindu-Tempel und einen Sikh-Tempel. Wenn man genau hinhörte, so konnte man auch hin und wieder den Muezzin einer Moschee hören.
 
Den ganzen Tag lang rief ein Sprecher vom Sikh-Tempel Rezitationen durch einen Lautsprecher ? während vor der eigenen Tür ein Junkie seinen Schuss ?genoss?.
 
Die Bedeutung der Religion wurde mir hier nicht deutlich. Wo setzt sie an, erreicht sie die Menschen, was machen die religiösen Menschen für ihre Mitmenschen? In solchen Momenten verkommen für mich die Rezitationen gleich welcher heiligen Texte oder Religion zu einem sinnlosen Geplärre, und ich merkte in dem Moment die Wut in mir.
 
 
 
 
Niemand hat verdient so zu leben
 
Während ich anfangs unser kleines Dorf um das Camp herum als eine harmonische Umgebung angesehen hatte, merkte ich mehr und mehr, dass auch diese Siedlung durch und durch von Armut und sozialer Brutalität durchsetzt war.
 
?HIV, Prostitution, Gewalt, Vergewaltigung kannst Du hier an jeder Ecke bekommen? versicherte man mir. Wenn ich die kleinen Kinder dabei ansah, so wurde mir ganz furchtbar zumute.
?Wo wachsen diese kleinen unschuldigen Kinder auf? Was für eine Zukunft haben sie? Werden sie jemals die Chance haben ein besseres Leben zu führen?? Das sind die Fragen, die einem dann durch den Kopf gehen.
Und mit einer Gewissheit kann man sie beantworten: Sie werden nie aus diesem Sumpf herauskommen, es sind verlorene Seelen, hineingeboren in eine unmenschliche Umgebung.
 
Viellicht wird das kleine süße Mädchen das sich jetzt noch hinter ihrer Puppe versteckt schon bald von einem dieser verkommenen Typen vergewaltigt, der kleine Junge vielleicht von den eigenen Eltern verkauft? Vielleicht sterben sie auch schon bald im Drogenrausch oder an AIDS.


Foto (21): Oft müssen die Menschen auch noch Miete zahlen für diese Hütten bzw. für den Boden wo diese steht
 
Oder sie sterben an Infektionen, an Tetanus, Tollwut, oder bei einem der vielen Verkehrsunfälle. Dann möchte man ihnen lieber den schnellen Tod wünschen, als unsagbare Qualen mit verstümmelten und nie heilenden Gliedmassen?
 
Das ist alles nicht übertrieben, entstammt keinem perversen Hirn eines Boulevard-Reporters, sondern ist alltägliche Realität in Indien!
 
In Indien passiert es auch immer wieder, dass Menschen als Ersatzteillager benutzt werden: sogar in den Krankenhäusern kommt es vor, dass nach einer Blinddarm-OP plötzlich eine Niere fehlt ? Zusatzeinkommmen für den Doc?


Foto (22): Es gibt niemanden, der es verdient hat so leben zu müssen!
 
 
 
?Den müssen wir jetzt sterben lassen. Wir können nicht jeden retten?
 
Am schwierigsten und kaum zu begreifen waren für mich Momente, in denen Menschen aufgund von Banalitäten starben, in denen man bei uns noch sehr viel hätte tun können, und der Mensch sogar sehr einfach wieder gesund geworden wäre!
 
Doch da wurde mir meist nur ein Blick zugeworfen, der mich wissen liess, dass es kein Spass war.
 
?Warum sollen wir den Patienten ins Krankenhaus bringen, nach ?Ausschwitz?? Dort wird er doch nur gequält! Wir sind hier in Indien, wir können nicht mehr machen! Wir lassen ihn jetzt sterben, in Frieden?mit einem Rest an Würde?? Worte, die aus dem Munde ?Tonbabas? kamen, zwar harten Inhalt hatten, aber doch von so viel Erfahrung geprägt waren.
 
Seit 10 Jahren war er in Indien, hatte dieses Camp mit der kleinen Klinik aufgebaut, und hatte viele Menschen sterben sehen. Er hatte die Erfahrung, und nachdem ich in den Krankenhäusern gewesen war, konnte ich ihm nicht mehr widersprechen?
 
?Wir können ihm jetzt nur Liebe und Wärme geben und ihn begleiten? sagte er, und drückte den Sterbenden an sich.
 
 
Die umgangssprachliche Redewendung ?der Tod auf Latschen? bekommt hier eine ganz und gar unwitzige, reale Bedeutung
 
Besonders bei jungen Menschen ist es wirklich nicht einfach. Kurz vor meiner Abreise bekamen wir eine junge Frau herein. Sie kam aus Delhi mit einer Autorikscha und war vollkommen entkräftet.
Schon vom Anblick konnte man sehen, dass sie eine TB im fortgeschrittenen Stadium hatte. Sie klagte über Schmerzen und Atemnot.
 

Foto (23): die 18jährige Kiran, TB-, HIV?-Patientin - 
"Du denkst nur 'Scheiße, scheiße, scheiße, warum?.??





Foto (24): ?.und ihr Röntgen-Bild

Die Anamnese verursachte bei mir wieder ein Gefühl des hilflosen Zornes: Ihr Mann hatte sie verlassen, da ihm die TB-Therapie zu teuer geworden war. Da sie sich nicht mehr um ihr ebenfalls TB-krankes 10 Monate altes Kind kümmern konnte, gab sie es zu Nachbarn und suchte Zuflucht bei ihrem Vater.
Dieser setzte sie aber nach kurzer Zeit in ein Taxi und warf sie an irgendeiner anderen Ecke der 15 Millionenmetropole Delhi hinaus.
 
Was passiert war bevor sie zu uns kam, wissen wir nicht, was mit dem Kind war genauso wenig. War es noch am Leben? War es schon Opfer von Misshandlungen geworden? Hatte man vielleicht Organe entnommen?
 
Ich frage Tonbaba wie es wäre, das Kind zu finden, zu seiner Mutter zu bringen, und zu therapieren. Er schaute mich nur raurig an, und mein schweitzer Kollege sagte: ?Können wir nicht, wir haben nicht das Geld. Wir können nicht jeden retten.?
 
 
 
Malaria und Montezumas Rache
 
Dann irgendwann erwischte es mich: Fieber 39.5°C. Ich war vollkommen daneben im Kopf, konnte nicht mehr geradeaus laufen. 
Mir gings ganz schön "beschissen", vor allem weil ich ständig ds Gefühl hatte neben mir zu stehen und nicht mehr Herr der Lage zu sein.

Unvorstellbar: Wie musste es dann erst all diesen Menschen gehen, die keine Reisekrankenversicherung in der Tasche hatten, kein Rückflugticket und eigentlich gar keine Chance auf Genesung oder gar ein normales, gutes Leben mit sozialem Rückhalt !!!

Sofort liess ich im nahegelegenen Labor einen Test auf Malaria machen. Das private Labor machte nicht nur einen ?dicken Tropfen?, sondern auch einen ELISA-Test. Am nächsten Morgen erhielt ich die Ergebnisse: negativ! - Alhamdulillah!!!
 
Diese Region um Delhi ist besonders (wie in allen tropischen Ländern) besonders zur Monsunzeit ?Kampfgebiet? der Anophelesmücke. Zum Glück gibt es hier aber hauptsächlich P.ovale.
 
Südlich von Mumbai jedoch ist Indien Hochrisikogebiet, und viele Traveller kamen in den letzten Monaten mit Malaria tropica aus Goa zurück.
 
Ich hatte als stand-by für Delhi ?Malarone? gekauft, und war nun froh, diese nicht schlucken zu müssen.
 
Ich stopfte ein paar Ibuprofen in mich hinein, und in den nächsten Tagen ging es etwas besser.
Das Fieber verschwand, aber stattdessen kam ein Durchfall vom Feinsten.
Ich begann eifrig Kohletabletten zu mr zu nehmen, die ja die Toxine usw. absorbieren sollen. Gleichzeitig besserte sich auch meine Stuhlfrequenz, sodass ich nicht besonders eingeschränkt war.
 
Dennoch schwächte mich dieser Durchfall, sodass ich keine großen Reisen mehr in den letzten Tagen unternehmen konnte. Bis zu meinem Abflug blieb die Toilette mein bester Freund.


Foto (25): Abend in Sewa Ashram 
 
Infos zur Klinik, zum Land, zur Anreise & Co.
 
Die Klinik liegt im Norden des Bundesstaates Delhi an der Grenze zu Haryana. Die nächste Provinzstadt Narela liegt wenige Kilometer entfernt. Delhi ist etwa 30km oder je nach Tageszeit 1-2 Autostunden entfernt.
 
Die Klinik ist das Herz des Camps. Zu Spitzenzeiten stehen wenigen Mitarbeitern bis über 200 Patienten gegenüber.
 
Schwerpunkt sind zwar HIV und TB, aber Schwerkranke arme Menschen werden nicht abgewiesen. Dazu zählen auch schwangere schutzlose Frauen, elternlose Kinder, die von der Strasse eingesammelt werden und demente alte Menschen. Allen gemeinsam ist jedoch die existenzielle fundamentale lebensbedrohende Not.
 
Momentan hat die Klinik 3 Krankenschwestern, eine davon eine jahrelang erfahrende in Sachen Krankenhausmanagement und Ausbildung von Krankenschwestern. Mit ihr und den Langzeit-Volontären/Mitarbeitern wird versucht die Klinik zu einer professionellen Institution umzugestalten. Phasenweise wird die Klinik von Schwerstkranken und Sterbenden regelrecht überschwemmt, sodass ein Arbeiten wie in Europa kaum möglich ist.
 
Regelmäßig fahren die Mitarbeiter mit den beiden Krankenwagen nach Delhi, um Menschen von der Strasse regelrecht aufzusammeln.
 
Neben dem ausgebildeten Personal gibt es vor allem angelernte ehemalige Patienten, die ihre Arbeit (Pflege von Schwerstkranken) z.T. ausgezeichnet machen.
 
Da die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten sehr begrenzt sind, werden die Patienten zum Labor nach Narela oder in die Krankenhäuser nach Delhi gefahren. Dort brauchen sie immer einen ?Attendant?, da Pflege usw. in Indien anscheinend nicht in den Aufgabenbereich der Krankenschwestern fällt.
 
Nach dem Krankenhausaufenthalt (die Organisation zahlt dafür) kommen die Patienten wieder zurück ? oder werden direkt ins Krematorium weitergefahren.
 
Neben dem eigentlichen Camp gibt es direkt anschliessend ein paar Gebäude: Das sogenannte ?Old Men?s House? für überwiegend alte Menschen, und das ?Kid?s House?.
 
 
Mögliche Aufgaben und Ansprüche für und an Medizinstudenten
 
Freiwillige jeder Art, egal ob studiert oder ungelernt, sind willkommen. Medizinstudenten treffen natürlich auf besonders grosses Entgegenkommen.
 
Die Tätigkeiten sind natürlich völlig anders als bei uns. Es kann sein, dass man verantwortungsvolle Entscheidungen alleine treffen muss, oder auch nur Kleinigkeiten macht.
 
Man sollte jedoch nicht erwarten, dass man einen Sonderstatus hat,und alle Mitarbeiter nach Anweisungen lechzen. Insgesamt ist man nur ein Teil im großen Ganzen, aber wenn man sich persönlich einbringt, kann man sehr viel machen. Das betrifft medizinische Dinge wie auch nicht-medizinische Themen.
 
Besonders im medizinischen Bereich muss man äußerst sensibel sein. Man muß die europäischen Standards bzgl. Der Hygiene und der diagnostisch-therapeutischen Möglichkeiten z.T. drastisch nach unten schrauben.
Viele Dinge sind in einem Entwicklungsland wie Indien nicht möglich, und so sollte man lieber schauen, wie die erfahrene Krankenschwester z.B. eine Wunde vollkommen eigenartig versorgt anstatt auf Lehrbuchwissen zu beharren.
 
Nicht entmutigen lassen sollte man sich, wenn ein Ex-Patient i.v.-Zugänge wie im Schlaf perfekt legen kann, während man das ja auch nicht zum ersten Mal macht, aber trotzdem nur grosse Hämatome produziert J
 
Man sollte sich auch immer vor Augen halten, dass man nichts verändern kann durch seine kurze Aufenthaltsdauer!
Man wird auch keine spektakulälren Operationen unternehmen können, keine Menschen toll retten können!
 
Vergessen sollte man auch die deutsche Hierarchie zwischen Krankenschwesten, Ärzten, Ungelernten. Wer am längsten da ist und die meiste Erfahrung hat, dessen Wort hat mehr Gewicht.
Man wird aber immer wieder nach der eigenen Meinung gefragt, ob man es anders machen könnte, was der Student vielleicht weiss!
 
Allzuleicht kam ich immer wieder in die Denkweise, was man in Deutschland alles machen könnte und würde. Es ist eine wahre Herausforderung, herauszufinden, was man mit den in Indien vorhandenen Möglichkeiten machen kann. Das ist auch irgendwie eine der schwierigsten und spannendsten Sachen in Indien!
 
 
Wenn man sich so einfügt, und bestimmte Sachen einfach als gegeben hinnimmt, so kann man unheimlich viel lernen.
 
Natürlich sollte man sein Wissen auch einbringen, und Ideen entwickeln. So kann man ein fester Bestandteil der Crew werden, und der Aufenthalt wird zu einem wunderbaren Erlebnis!
 
Ich kann jedem nur ein Erlebnis in so einer Einrichtung empfehlen! Mit etwas Abenteurer-Geist und Neugierde für Neues, Unbekantes und dem Herzen am richtigen Fleck ist man genau richtig bei Sewa Ashram!
 
 
Anmerkung:
 
Der hier widergegebene Bericht spiegelt meine eigenen Erlebnisse und Meinung wider. Natürlich wäre es vermessen zu behaupten, ein Slum stände repräsentativ für ganz Indien. Jedoch wird dem mit offenen Augen Reisenden die extremen Gegensätze auffallen.
 
Trotzdem sei jeder dazu eingeladen dieses Land unvoreingenommen mit offenen Augen zu entdecken!
 
 
Text und Fotos: Martin Wendland, Berlin, 17.09.07