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Susanne Oertel's Betrachtungen
Susanne Oertel ist Krankenschwester und war für mehrere Monate in Shantiniketan und hat im Dorf mit Leena und Sonam gewohnt. Hier ihr sehr interessanter Bericht:

Johar ihr Lieben!!

Immer, wenn ich auch meinem riesengroßen Gent-cycle über die staubigen Schlaglochwege durch die Reisfelder schaukele, schreibe ich in Gedanken den letzen (und ersten?) langen Brief an euch weiter (ihr sitzt dann sozusagen allen auf meinem Gepäckträger - übrigens die gängigste Transportmethode hier. Ich habe einmal VIER Jungs zwischen 16 und 18 Jahren auf EINEM Fahrrad gesehen?!) aber diesen dann in halbwegs geordneter, verständlicher Form zu Papier, geschweige denn zu Tastatur zu bringen, ist gar nicht so einfach.
Den herkömmlichen Postweg habe ich aufgegeben, da offensichtlich keiner meiner Briefe Deutschland erreicht hat. Während ihr wahrscheinlich ziemlich friert im deutschen Winter, schwitze ich zumindest in der Mittagszeit in der indischen Sonne, die meine Haut allmählich etwas brauner werden lässt. Inzwischen habe ich hier innerlich tatsächlich meine Zelte aufgeschlagen, das heißt ich habe etliche Freunde gefunden, bin vertrauter geworden mit allem was mich umgibt. Nichts desto trotz habe ich das Gefühl, in einer riesigen Gefühlsschaukel zu leben. Von himmelhoch jauchzend bis zu tode betrübt wechseln sich manchmal in rasantem Tempo ab. Ich könnte geradezu behaupten, stimmungslabil zu sein.
Manchmal ist Indien nichts als eine ungeheure Verletzung, seelisch wie körperlich, allein durch die Vermüllung, den Staub, den unglaublichen Lärm, die Unzahl von Menschen , das Elend, oder ihre oft sehr traurigen Lebensgeschichten, die Menschen verachtende Hierarchie und Männerdominanz. Und dann wieder ist eben dieses Indien ein Himmelsgeschenk, das Paradies auf Erden durch eben diese Menschen in ihren unzähligen so spontanen, freudestrahlenden, einfachen und liebevollen Gesten, ihre Hilfsbereitschaft, ihr lächeln.
Das grösste Geschenk hier sind die Kinder! In den letzten paar Tagen kamen sie Nachmittags zu meiner Hütte, um zu malen. Mit Hilfe alter Zeitungen ?behütete? ich sie, was zu einer einzigen großen Freude wurde. Sie sind so unendlich bescheiden, so vorsichtig und mit so wenigem so aufrichtig und momentan glücklich. Da ich mich ja nicht mit ihnen unterhalten kann, singe ich einfach irgendetwas begleitendes zu dem, was wir gerade tun. Das nehmen sie SOFORT auf.

Ich habe ja schon berichtet, dass ich mit dem ?Children-Checkup? in RSV, der Nonformal School for Santalchildren begonnen habe. Neben den zum Teil immensen Vitaminmangelerscheinungen zeigte sich, dass ganz viele auch Würmer haben. Eigentlich wollte ich es  nur mit Calmek versuchen (Calmek ist glaube ich bei uns als Kalmus bekannt und ein bewährtes Heilmittel.) zusammen mit Hiralal, einem Lehrer, stellten wir dann ?Tabletten? her (das heißt die Blätter werden zermuuuuuusst auf dem traditionellen Grind-Stone und dieser Brei wird dann in kleinen Häufchen getrocknet).
Aber zum einen hatte ich noch keinen wirklichen Überblick oder das richtige Gespür, wie so etwas am besten anzuleiten sei ? und zum anderen gibt es auch hier diese eigenartige Versessenheit auf ?richtige? Tabletten. Kurz und gut, in der Schule war eine grosse Box mit Mebendazole, Vitamin A und Vitamin-Compound und ich lies mich von Hirala drängen, diese doch nun aufzubrauchen bevor sie verfielen.Es war ein ziemlicher Akt, an drei hintereinander folgenden Tagen die richtigen Tabletten an die richtigen Kinder zu verteilen (wobei ich wirklich den Hut ziehen muss, wie 70 Kinder so unaufgeregt dazu gebracht werden können, sich relativ still in einen großen Kreis auf die von der grellen Sonne ausgetrocknete Wiese zu setzen und zu warten).
Ziemlich enttäuscht musste ich aber nach 2 Wochen feststellen, dass diese Kur keinen Erfolg gezeigt und dieselben Kinder noch immer Würmer hatten. Anfang dieser Woche startete ich einen neuen ?Clamek-Versuch?. Gemeinsam mit Class Four und Hiralal zogen wir los, um die Pflanzen zu sammeln. Während ich so umringt war von den Mädchen, die sich darum drängelten an meiner Hand gehen zu dürfen (die Kinder lieben es, meine helle Haut anzufassen oder mein Haar zu öffnen und dann zu einer ?richtigen Frisur? zurecht zumachen), fing ich einfach an, ein ?Calmek-Lied? zu singen. ?Where is Calmek? Where is Calmek? Where is Calmek? Show me, show me, show me the Calmek.'
So singend wateten wir barfuß durch den Fluss (ich habe hier übrigens das Medikament Bryophyllum / Conchae in seiner ursprünglichen Form entdeckt: direkt um die Pflanzen herum lagen ganz viele Muschelschalen? zwar keine Austern, aber immerhin doch Kalk. Nun sagt man ja, dass dort, wo es bestimmte Krankheiten gibt, auch die entsprechenden Heilmittel zu finden sind. Ich kann mir aber im Moment beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Menschen hier Bryophyllum / Conchae bräuchten. Ich muss aber zugeben, dass ich mich weder mit dem  Medikament noch diesen Menschen so besonders gut auskenne. Wer weiß, was sich da noch auftut??
Zurück zum Calmek: mit einem riesigen Bündel zogen wir wieder zur Schule und ich baute dieses einfache Liedchen immer weiter aus (wash the Calmek; dry the Calmek; let?s make tea and drink the Calmek) so konnte ich sie die ganze Zeit bei der Stange halten. Als der auf dem Holzfeuer der Schulküche gekochte Sud fertig war, füllten wir ihn in einen großen Aluminiumeimer und verdünnten ihn mit kaltem Wasser.
Um sie dazu zu bringen, dies abscheulich bittere Zeug zu trinken, nahm ich todesmutig die erste Tasse, sehr darum bemüht, keine Miene zu verziehen. Hari (gesprochen Hori mit rollendem R) ein besonders flinker, verschmitzter Junge konnte darauf hin nicht schnell genug auch eine Tasse trinken und zeigte sich überaus mutig. Ich verwehrte ihm aber eine zweite Portion und er wurde dafür mein beflissenster Assistant. Innerhalb kürzester Zeit wurde ich richtiggehend arbeitslos. Die kinder managten alles: vom Heranholen ihrer Kameraden die sich in einer Reihe aufstellen sollten (was dann aber doch zu einer Traube wurde, weil alle den Trinkenden zuschauen wollen), übers Ausschenken und Überzeugen der Unwilligen bis zum Tassen spülen.  Ich musste nur schauen, dass auch jeder dran kam? und das Liedchen immer wieder von vorne anleiern.
Diese Art der Medikation ist zum einen mit viel mehr Spaß und Eigenaktivität verbunden und hat zum anderen einen wesentlich effektiveren  Lernerfolg für die Kinder ? und zeigt hoffentlich auch mit etwas Geduld einen nachhaltigeren gesundheitlichen Benefit!

Situationen wie diese sind aber zugegebener Massen eher ?Sternstunden?. Sehr viel häufiger ist es doch so, dass ich mich auch einfach gnadenlos überfordert fühle und zwar in vielerlei Hinsicht: je länger ich hier bin, desto mehr sehe ich, wie complex diese ganze Situation ist, die Lebensweise, die damit verbundenen Probleme. Und es wird mir immer klarer, dass es keine schnellen oder einfachen Lösungen gibt. Es kommt schlicht und ergreifend auf die Gestaltung im Alltag an, das heißt Überzeugungsarbeit über Jahre (eben auch die ?Gestaltung des Geldes?, der Mittel ? ohne die es nicht geht? mit denen alleine allerdings auch NICHTS Gutes wird? eher im Gegenteil!) und gerade in der Mühsal des Alltags kommen eben auch alle menschlichen Facetten zum Vorschein, die im ersten Moment gar nicht auffallen. Ich stehe ständig in dem Dilemma mich auf diesen Lebensrhythmus einzulassen und andererseits dabei nicht innerlich jede Form zu verlieren, sondern die Dinge im Blick zu behalten und zu fokussieren. Aber auch so zu agieren, dass ich Niemanden vor den Kopf stoße und verletze.

So kam ich zum Beispiel in der Vorstellung hier her, Lina sei eine unabhängige, selbstständige und idealistische Health-Workerin. Zum Einen ist sie aber sehr mit ihrer persönlichen Häuslichen und ehelichen Situation beschäftigt, zum Anderern hat sie eben keine ?vollständige Ausbildung? und zum Dritten in es immer noch wahnsinnig schwierig, als Frau außerhalb von Herd und Küche zu arbeiten, vor allem in einem so komplexen Sozialkontext wie der Dorfgemeinschaft. Auch wenn ihr Ehemann Sona, der ja der Sekretär der NGO (Non Government Organisation = Hilfsorganisation) ist, sie unterstützt in dieser Arbeit, fordert er auch in gleichem Masse eine perfekte Hausfrau ein (und das ist hier im Dorf einfach noch was ganz anderes als bei uns? es gibt ja nicht eine einzige Maschine, die man anstellen und nebenher etwas anderes tun kann.) dazu kommt, dass ihre Schwägerin, die im selbigen Haushalt wohnt, grosse Schwierigkeiten damit hat, Linas Arbeit zu akzeptieren. Für sie sehen Patientenbesuche aus wie Plauderei ? während sie körperlich hart arbeiten und dann auch noch für alle kochen soll? Selbst wenn sie es vom Kopf verstünde, so könnte sie es doch niemals fühlen. Außerdem hat Lina bis jetzt noch immer keine Kinder (mit 35 Jahren und nach 3 Jahren Ehe), was in der indischen Gesellschaft als ?Fehler der Frau? angesehen wird und ihre Anerkennung reduziert.
Dann gibt es noch die Schwierigkeiten anderer Art, wie zum Beispiel, dass auf Grund des noch immer deutlichst ausgeprägten hierarchischen Gesellschaftssystems Teamwork fast nicht möglich ist (auch gar Fähigkeit kaum oder gar nicht veranlagt), dass Niemand Verantwortung übernehmen will (selbst wenn ein Patient dann endlich beim Arzt ist, kann ich deshalb noch lange nicht beruhigter sein, bzw. mich sicherer fühlen!), dass es kein Dringlichkeitsempfinden gibt, dass einem überall höchst eigentümliche und überflüssige bürokratische Steine zwischen die Füsse geschmissen werden? und dass es einfach VIEL ZU VIELE Bedürftige gibt (die häufig ungebildet und unselbstständig sind und dann erwarten, innerhalb einiger Stunden gesund gezaubert zu werden).
Eine Situation, die Lina mir erzählte, fand ich sehr beeindruckend (in dem Sinne, dass es mir die Sprache verschlug): sie hatte für ihren blinden Schwager etwas Amtliches in der Stadt zu erledigen, und hatte deshalb ihr eigentliches Program abgesagt ? war sozusagen nicht zur Arbeit gekommen. Mit ihrem Fahrrad fuhr sie ca. 2km zur Bushaltestelle (manchmal gar nicht, manchmal am ?tea-stall? an der staubigen piste erkennbar). Bis in die Stadt mögen es noch 3 höchstens 4 km gewesen sein, aber da die Sonne schon ziemlich heiß vom Himmel brannte, ?fühlte? sie, dass? sie nicht fahrradfahren könne?. Nach ca. einer halben Stunde hätte der Bus kommen sollen, was er aber nicht tat. Auch der Nächste und Übernächste kam nicht und so sass sie geschlagene drei Stunden an der Strasse, in der Sonne dösend, und wartete!
Mann muss hier einfach ständig ALLEM hinterher laufen! Manchmal komme ich ziemlich an die Grenzen meiner Geduld und meines Verständnisses! Dann fange ich an, mit mir zu hadern und attestiere mir einen Mangel an ?interkultureller Sozialkompetenz?. ? dies hier ist in hohem Masse eine art sozialpädagogische Arbeit, zu der mir oft Weitsicht, Überblick, Wissen und menschliche Reife fehlen. Manchmal wünschte ich mir einen direkten ?Kollegen? (im sinne von Volunteer) vor Ort mit dem ich mich in meiner Muttersprache austauschen, ausheulen und neue Ideen entwickeln kann. Trotz- oder wegen? ? allem ist dies eine total spannende Erfahrung und ich bin immer wieder auch sehr froh, die Möglichkeit zu haben, Einblicke in dieses so völligst andere Leben zu bekommen!

Hier noch ein paar ?Spots?, um etwas von dem Mosaik, das ich hier erlebe zu euch kommen zu lassen: in Rindanga trafen wir auf eine junge Frau (etwa mein Alter?), die in einer Ziegelsteinfabrik arbeitet und den ganzen Tag diese Steine auf ihrem Kopf von einem Ort zum nächsten schleppt. Sie verdient vielleicht 50 Rupies [1 Euro] am Tag. Ihre Hände und Füsse sind hart und eingerissen wie altes Leder, ihr Haar staubig und ?ausgefranst? ? und auf ihrem Gesicht liegt ein warmes, breites grinsen, wenn sie sagt: ?ich mag diese Arbeit. Ich habe sie ja beinahe von Kindesbeinen an getan.?
Ziehrickshaws in Kolkata: klapperdürre, sehnige, weisshaarige Männer mit Glöckchen in der rechten Hand spannen sich wie Kühe vor diesen Karren, auf deren altertümlich geschwungenen Sitz gut beleibte und wohlbetuchte Menschen thronen und sich das Treiben von oben anschauen.
Oft, vor allem im überfüllten Bus, wo sich die Männer immer gerne so richtig eng an mich quetschen, muss ich an das Bild der Hündin denken, die räudig und klapperdürr noch vom letzten Wurf krampfhaft den Schwanz einklemmt und zähnefletschend sich um ihre eigene Aches drehen umgeben war von drei stattlichen, liebes wütigen Rüden. Endlich fand sie einen Ausweg und entfloh? woraufhin die Jagt erst richtig eröffnet war.

Wir nahmen unsere Räder um auf dem nur vom Mond erhellten Dorfweg zurückzufahren. Plötzlich erschütterte ein durchdringender Schrei und anschließend lautes Wehklagen die Nacht. Die Schreie kamen offensichtlich von einer Frau, an deren Hütte wir eben vorüberführen. Ich konnte nicht anders, als anzuhalten und bat Pintu, ob wir nicht nachsehen könnten, was passiert sei. ? dort, im von trockenen Palmblättern zum Weg abgeschirmten Hof war die Silhouette eine halb entblößten, sehr dünnen Frau und die eines kräftigen keuchenden Mannes zu sehen, der eben trunken vom Reisbier heimgekommen war und nun seine Frau verprügelte ? wohl, weil diese ihm Widerworte gegeben hatte!
Selbst als Pintu schon dicht bei ihm stand und beschwichtigend auf ihn einredete, versetzte er ihr noch einen Schlag, bei dem sie wieder laut aufschrie. Sie schützte oder stütze ihr Gesicht mit dem rechten Arm, mit der linken Hand aber hielt sie sich aus irgendeinem Grund an ihrem Mann fest, der nur sehr unwirsch und grob sein Tuch, das er vorher um seinen Kopf gebunden hatte, von ihr los zerrte und langsam in der Hütte verschwand während sie halb nackt in der Kälte stand und gotterbärmlich schluchzte.

Leben ist tanzen. So, wie sie tanzen, in diesem eindringlichen gleichförmigen und zugleich belebenden, fort währenden Rhythmus, den ebenso immerwährenden, kontinuierlichen Bewegungen, (die Schritte sind nicht besonders gross, schnell oder kompliziert, dafür schwingt aber der ganze Körper mit? was schon wieder komplizierter ist - und langsam, langsam wir eine Kreisbahn vollendet) so arbeiten, so leben sie auch. Ihr ganzes Lebensgefühl findet seinen Ausdruck in diesen rituellen Tänzen ? ich entdeckte darin die Elemente ihrer Sprache, ihrer Art der Artikulation. Es folgt alles diesem stetigen, immerwährenden, naturgegebenen Rhythmus: Abend folgt dem Morgen, Sommer dem Frühling, Schlafen dem Wachen. Die Jahre werden nicht gezählt, bzw. das Leben nicht in Jahre eingeteilt. Vielmehr ist es wie in einem großen ruhigen Strom, der unaufhaltsam aber gleichmäßig (rhythmisch) und ständig seiner Bestimmung folgt: sich mit den großen Wassern zu einen.

Jetzt wünsch ich euch einen schönen sonnigen Winter, schicke euch indische Wärme und tausend herzliche Grüsse.

Susanne Oertel, Shantiniketan am 8. Februar 2006

susanne_schlenkerbein@web.de


Und hier eine weitere sehr interessante Mail von Susanne Oertel:

"In allem pulsieren, an Nichts sich verlieren"

                                 - Chr. Morgenstern -
 

Hallo, Ihr Lieben!

Wie es Euch "da drueben" inzwischen wohl ergehen mag? Das ist eine Frage, die ich immer und immer wieder mit mir durch dieses faszinierende Land trage, mal mehr den einen, mal mehr den anderen "dichter" bei mir...je nachdem, welche Situation welche Assoziationen in mir hervorruft.
...Und wer haette es gedacht, "Miss Schlenkerbein" findet allmaehlich so etwas wie Gefallen am e-mailen...! So etwas "materialistisch-technokratisches" in einem so von spirituellen Sagen umwobenen Land?! Ja, ich muss sagen, ich bin wirklich froh um diese Moeglichkeit (und langsam habe ich auch die Tricks raus, wie man in ind. I-netcafes zurecht kommt...),erlaubt sie mir doch, sofern es der Einzelne erlaubt, an Eurem Leben weiter teilzuhaben. Unglaublich, was das fuer ein Halt sein kann inmitten einer so anderen Kultur...!
Ich springe hier geradezu von "Welt zu Welt". An jeder Ecke tut sich etwas Neues auf!Gerade bin ich mit Liat, einer Israelin, die ich in Kalkutta kennengelernt habe, in Kalimpong. Martin hat mir sein bezauberndes cottage angeboten. Es liegt am Hang, etwas oberhalb der Stadt... und waere die Sicht klar, haette man wohl einen atemberaubenden Blick auf die Berge des Himalaya. (Wir befinden uns auf einer Hoehe von gerademal 3000 Metern). Im Moment ist es leider sehr neblig-dunstig, wie in einer riesigen Waschkueche ( nur, dass es hier gottseidank nicht so feucht-heiß ist,wie in einer solchen, das war mehr in Kalkutta der Fall).

Die Zeit im Dorf...sie scheint schon so unendlich weit weg zu sein ? dabei ist es gerade eine Woche her, dass ich mich verabschiedet habe! Zudem waren gerade die letzten Wochen mit Monika sehr intensiv. Fuer mich war es eine enorme Hilfe, sie so zu erleben. Zum einen weiss sie einfach sehr sehr viel, sowohl in fachlicher Hinsicht, aber eben auch ueber die Menschen hier. Sie weiss inzwischen, wie sie mit ihnen reden und umgehen kann, wie sie sie liebevoll fuehren kann.
Wir haben sehr viel miteinander geredet, dadurch konnte ich vieles noch einmal mit anderen Augen betrachten, konnte manches besser verstehen...und sehr viel lernen. Aber ich konnte ihr auch etwas von der "Langzeitwirkung" vermitteln, davon, dass z.B. Leena, aber auch andere Verantwortliche der Organisation, ploetzlich ganz anders in der Lage zu arbeiten sind, wenn sie da ist. Es bedarf doch immer noch sehr stark eines Menschen, der die "Fuehrung" uebernimmt, der den Ueberblick ueber alles hat, der konkret weiss, wo es (z. B. In einer med. Angelegenheit) hingehen soll, der immer, immer dran bleibt und den Einzelnen immer wieder fragt. Die Selbdtorganisation ist doch ein sehr schwerer Schritt, den Martin mit der "Verringerung seiner Praesenz" im Dorf (natuerlich nicht nur dadurch!) vorantreibt.
Manchmal war ich natuerlich ein wenig ? sagen wir ? konsterniert,wie schnell sich auf einmal manche Dinge regeln liessen, (bzw. wieviel mehr Gewicht ein Wort aus ihrem Munde hat...) - vielmehr aber fuehlte ich mich total inspiriert!
Wir haben gemeinsam u.a. einen Frauenworkshop veranstaltet. Es kamen durch Leenas unermuedliche Vorarbeit ca. 20 Frauen, sowohl aus "unseren", wie auch den umliegenden Doerfern und einer anderen Organisation (einige nahmen einen stundenlangen Fussmarsch  wegen eines, hier nicht gerade unueblichen, Busstreiks in Kauf!) Am ersten Tag war das Thema Schwangerschaft und Geburt im Zusammenhang mit Hygiene und gesunder Ernaehrung. Es war so schoen, zu erleben, wie die Frauen mehr und mehr "auftauten", sich wohlfuehlten untereinander... und sich trauten, Ihre eigensten Fragen zu stellen! Ich hatte zwei grosse "Demoplakate" mit Pastellkreiden gemalt, eines zum Thema Ernaehrung (hauptsaechlich die Fruechte und Gemuese, die sie kennen) und eins zum Thema "weiblicher Koerper", denn die rein "schematischen" Zeichnungen sind doch sehr abstrakt. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen hier so sehr in den Farben leben und darueber viel viel leichter einen Zugang finden und das ganze mit sich selbst in Zusammenhang bringen koennen.
Hier wurde mir so deutlich, dass Unwissenheit nicht nur Unsicherheit, sondern auch Angst erzeugt.
Und die meisten Frauen (die Maenner mit Sicherheit ebenso ) wissen so gut wie garnichts ueber ihren Koerper. Viel bekommen ja schon Kinder, wenn sie selbst fast noch Kinder sind (auch wenn in Ghosaldanga und Bishnubati die Verheiratung von minderjaehrigen Maedchen mittlerwile weitestgehend "abgeschafft" wurde, heisst das noch lange nicht, dass nicht die jungen Maenner dieser Doerfer sich keine "Minderjaehrigen" zur Ehelichung aus einem anderen Dorf ausschauen ? oder ausgesucht bekommen.) Zumeist ist ein Maedchen "erwachsen", d.h. Heiratsfaehig, wenn es in der Lage ist, einen Haushalt zu fuehren, also alle notwendigen Arbeiten in und um das Haus herum sowie auf dem Feld erlernt hat.
Ich konnte richtig spueren, wie wichtig es fuer die Frauen ist, sich in so einem geschuetzten Rahmen ueber diese Themen austauschen und Antworten auf ihre Fragen bekommen zu koennen. Mein Eindruck ist, dass durch die Tabuisierung der Sexualitaet (die bei den Santals weitaus geringer ist aks beispielsweise in hinduistischen oder muslimischen Gesellschaften) so wenig Selbstbewusstsein und dann so grosse Abhaengigkeit resultiert.
Am 2. Tag haben wir mit einem sehr versierten, charismatischen Jesuitenpater Medizin aus hiesigen Heilkraeutern hergestellt. Obwohl es mit der noetigen Ernsthaftigkeit einherging, hatten wir sehr viel Spass miteinander. Und die Frauen wurden direkt in dem Punkt ihrer enormen Faehigkeiten angesprochen: dem praktischen Tun, das unmittelbar ihrem Lebensumfeld entspringt.
Noch etwas anderes hat mich zutiefst  erfreut: Es hat mich so viel Muehe, Anstrengung, Zeit und Nerven ?gekostet?, fuer unsere Tb-Patientin Laxmi (Intestinal-Tb?ich glaube, ich habe mal davon berichtet??) ueberhaupt erstmal die richtige Diagnose und dann die richtige Behandlung ausfindig und ?lebenspraktisch? zu machen! Schliesslich, nach fast 3 Monaten, konnte sie endlich in ein entsprechendes Sanatorium ueberwiesen werden. Eigentlich wollte sie dort (unter ?aktiver Einbindung? ihres Ehemannes) besuchen ? ca. ½ h Busfahrt vom Dorf  entfernt - ,habe es aber wegen der intensiven Arbeit mit Monika und schliesslich  meiner eigenen Aufbruchsvorbereitungen wegen nicht geschafft?und dachte schon, ich koenne ihr nicht persoenlich Tschuess sagen. Da sah ich sie am letzten Tag im Dorf! Sie hatte zwar noch nicht  wirklich an Gewicht zugenommen (oder vielleicht doch von 28 auf immerhin 30 kg?!), sah  aber viel kraeftiger  und v.a. Endlich  wieder froehlich aus! Wir beide strahlten von einem Ohr zum anderen, als wir uns begegneten und uns mit Haenden und Fuessen unterhielten. Das war ein richtig herzlicher ?und froehlicher Abschied!

Meinen Geburtstag habe ich noch im Dorf gefeiert. Das war ein Fest, so was habe ich einfach noch nicht erlebt! Ich hatte den Koch, der des oefteren fuer groessere Veranstaltungen kocht und quasi ein Freund des Dorfes ist, ein Essen fuer ca. 30 Leute zuzubereiten (WAHNSINNIG LECKER!), das er auf zauberhafte Weise verstand, fuer 60 Personen zu ?verlaengern?! Fuer die ?Allgemeinheit? gab?s Reisbier und Muri (Puffreis) mit Huehnchencurry. Da wurde dann in der Dunkelheit vor meiner von den Kindern und Sanyasi wunderschoen geschmueckten Huette die herrlichste Musik gespielt, getanzt und ein riesiger Lichterberg entzuendet! Spaeter kam Rathin, der ?singende Gott? (der erste Santali, der Baul- und bengalische Folkmusik macht) mit seiner Band und sie musizierten auf?s Feinste bis tief in die Nacht. ? Und fuer alle war nicht das Entscheidende, was ich in der doch sehr langen Zeit im Dorf ?geschafft? hatte, sondern, dass ich, al seine Fremde, ihnen und ihrer Lebensart und ihren Gefuehlen so nahe gekommen war?
Der Abschied war natuerlich entsprechend schwer, gleichwenn fuer mich doch auch das Geheimnis der tausenden unentdeckten Gefilde verheissungsvoll winkte. Fuer die, die bleiben, ist es immer schwerer. Ich aber habe hier eine Heimat, einen Platz in ihrem Herzen gefunden ? wie sie sich teif in meinem Innern eingeschrieben haben. Immer wieder bin ich so davon beruehrt, wie sie, die materiell so wenig haben, sich durch ihre TATEN erkenntlich zeigen, sich selber geben.

Am 25. Maerz bin ich dann aufgebrochen nach Kalkutta. Davor hatte ich eigentlich ein bisschen Schiss (die Hitze, der Laerm, die vielen Menschen, das Elend), wusste eigentlich nicht so recht, was ich da verloren hatte? und wollte es doch unbedingt. ? Und dann war es so gut!! Das Ankommen in Howrah-Station glich nicht mehr dem Ausgeliefertsein an ein Inferno?Ich konnte mich relative relaxt durchfragen, frei bewegen. Und liess mich  dann in Sudderstreet, dem absoluten (backpacker-) Touristenviertel absetzen, wo ich so schnell so vielen interessanten Menschen  aus ?aller Welt? begegnet bin. Die4 Art, wie die beiden Australierinnen Sarah und Julia z. B. Mit den Menschen hier umgingen, lehrte mich viel und ich verlor meine ?Beruehrungsaengste?. Dadurch konnte ich den zig- Bettlern, v.a. Den Kindern, ohne Angst, mit Freundlichkeit und v.a. Einem ehrlichen Laecheln begegnen? und im Handumdrehen wurden angespannte Situationen entschaerft, ins Gegenteil verkehrt? Weil sich so wohl als Menschen, als Individuum begegnen kann ? und sich gegenseitig respektiert fuehlt. Und ich habe so veil Hilfe bekommen!
Dennoch gibt es viele Bilder, die ich haeufig in dem Moment gar nicht voll realisiert habe, die mir jetzt aber im Nachhinein, foermlich die Schuhe ausziehen. Wie z. B. Ein junges Maedchen auf einer lumpigen , duennen Decke auf dem Buergersteig liegt ? und neben sich ihr kaum 3 Tage alter Saeugling?Umgeben von Laerm und Dreck,ausgeliefert der Hitze und der Ungnade oder Gnade der Vorueberkommenden?! Sie wird wohl irgendwo auf der Strasse entbunden haben. Es ist unfassbar, wie Menschenleben einfach ?weggeschmissen? warden, in die Gosse geleert? - Und wie schwer es ist, ob dieser Flut nicht den Verstand zu verlieren.
Ich glaube, ich habe einen sehr grossen Schutzengel, der mir immer wieder im richtigen Augenblick die richtigen Menschen zufuehrt. So mit Liat ? wir kennen uns nicht und doch ist das etwas Vertrautes, so dass wir nach wenig Zeit beschliessen koennen, gemeinsam ein Stueck zu reisen ? ohne Verpflichtungen, ohne Erwartungen, frei und doch verbunden.
Zwei Tage spaeter mache ich mich auf den Weg nach Kalimpong. Sie begleitet mich zum Taxi?und natuerlich bin ich wieder zu verpeilt mein Zugticket, das mir Martin freundicherweise besorgt hatte (ohne sein Nachfragen haette ich?s wahrscheinlich zeitlich voellig vertrottelt?), richtig zu lesen ( da steht aber auch immer so verdammt viel drauf und die wirklich wichtigen Infos sind irgendwo ganz klein am unteren Rand, waehrend Alter und Geschlecht der Reisenden gut sichtbar in der Mitte prange..diese Logik kapier ich einfach nicht!) ? Und lasse mich ca. 40 Minuten durch diesen irrsinnigen Verkehr zum falschen Bahnhof kuschieren, um dann in halsbrecherischem Tempo inselbiger Irrsinnigkeit ans ganz andere Ende der Stadt gekarrt zu warden. Herrlich! Immerhin habe ich meinen Zug ? undzwar den richtigen!!! ? erwischt?ohne dass ich mich im Taxi gross aufgeregt oder angespannt haette, weil ich mir sagte, dass ich?s damit nun auch nicht mehr aendern koenne (wie ich allerdings diese Verpeiltheit mal abschaffen kann, ist mir ein Raetsel?!) In Siliguri, der Umsteigestation? am naechsten Morgen stand Busstreik auf dem Plan, so dass mir nichts weiter uebrigblieb, als den Tag und eine Nacht in diesem voellig langweiligen, dreckigen und lauten Ort zu verbringen. Was mir die Bekanntschaft eines sehr netten kanadischen Paares einbrachte. Dadurch wurde ebendieser Ort geradezu schoen! Der Anstieg in die Berge ging ziemlich ploetzlich. Ich sass in diesem Bus, der binnen kuerzester Zeit bis auf den letzten Stehplatz (ueber-)fuellt war und sich aechzend und stoehnend in schwindelerregende Hoehen wand. Vertrocknets Graugruen wechselte mit dschungelartiger Fuelle, riesige Palmen haengten ihre Blaetter beschattend ueber die Strasse, die von ihren unzaehligen Erbauern Geschichten zu erzaehlen schien, kleine Haeuschen schmiegten sich an rauhe Felswaende. Und die Gesichter hiesiger Menschen! Sie haben die herbe, wettergegerbte Schoenheit der Berge und einen nepalesisch-tibetischen touch?liebevoll-freundlich blickenden Augen.
Kalimpong hat einen Hauch von europaeischen flair. Alles erscheint mir hier geschmackvoller, entspannter. Selbst der Strassenstaub ist nicht so penetrant-aggressiv?was auch mit dem milderen Klima zusammenhaengen koennte.
Ich geniesse es gerade sehr, ?einfach so? hier sein zu duerfen, Zeit fuer mich zu haben. Obwohl ich die meiste Zeit des Tages mit Liat verbringe, durch die Strassen schlendernd und die Menschen bewundernd, kann doch jede so frei sein, dass zu tun, was fuer sie gerade wichtig ist. ? Ich glaube, das ist ein Punkt, der mich nicht in Indien leben liesse:Dass es so unverstaendlich ist, seinen Raum (d.h. Zeit) fuer sich allein zu brauchen (?alleinsein? heist hier, wenn man ?nur? zu dritt ist?)
Eigentlich haetten wir heute nach Sikkim, einem kleinen Grenzstaat im Norden, in dem man sich nur mit ?permission? 15 Tage aufhalten darf, aufbrechen wollen. Aber wir beide koennen nicht wirklich Tschuess sagen?zudem hat sich Liat eine ordentliche Erkaeltung eingefangen. Aller Wahrscheinlichkeit nach, packen wir?s uebermorgen. Wir wollen gemeinsam eine Trekkingtour durch die Berge machen.
Bin total gespannt, wie das wird und hoffe auf klare Sicht!
                    
Es gruesst Euch alle ganz herzlich von den ?Daechern der Welt? Susanne
4. April 2006