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Sadar District Hospital, Darjeeling,
Indien im Oktober 2000


Ich war längere Zeit im heißen Süden Indiens in Vellore gewesen und suchte etwas Abkühlung aber auch nach der Möglichkeit, Medizin auf dem "gras roots level" auszuüben. So entschied ich mich spontan, nach Darjeeling zu fahren. Über indische Beziehungen konnte ich im "Planters Hospital" anfangen, einer kleinen Privatklinik, die ehemals zu den Teeplantagen gehörte und ca. 30 Betten hat. Ich begleitete Dr. Sherpa bei seiner Arbeit. Diese bestand aber hauptsächlich aus Ambulanz-Arbeit, also vergleichbar mit der Routine eines Allgemeinarztes und ich suchte etwas mit mehr Praxisbezug.
So hörte ich mich weiter um, und durch glückliche Zufälle erhielt ich die Nummer von Dr. Chaudhuri, dem Gynäkologen am Sadar District Hospital. Durch seine Freundlichkeit und seinen Einsatz war es mir möglich, eine Erlaubnis vom Medical Superintendant zu erhalten. So wurde der Weg für ein einmaliges Erlebnis für mich geebnet.
Es stellte sich heraus, dass niemals zuvor ein Ausländer hier gearbeitet hatte und dass auch schon seit ein paar Jahren keine indischen Medizinstudenten mehr hier gesehen wurden. Aber das war nur zu meinem Vorteil: Ärzte und Schwestern waren äußerst aufgeschossen und hilfreich!

Darjeeling
Darjeeling ist eines der berühmtesten "Hill Stations" Indiens, auf über 2000m Höhe, ganz im Nord-Osten zwischen Nepal, Tibet, Butan und Bangladesh, in den Fußgebirgen des Himalayas. In Darjeeling treffen viele Kulturen, Religionen und Klassen aufeinander - Man spürt immer noch das Flair der ehemaligen britischen Kolonialherren. Hier treffen Nepalesen, vertriebene Tibeter, Bengali, Tagelöhner aus dem Süden mit ihren eigenen Religionen und Sprachen auf reiche indische und westliche Touristen. Klimatisch fand ich es im November etwas zu kalt und feucht, aber die wahnsinnigen Aussichten von der Oberstadt auf mehrere schneebedeckten Achttausender und die mit Teeplantagen gesäumten Täler machen es wieder wett.

Sadar District Hospital
Das Krankenhaus liegt in dem etwas ärmeren Teil der Stadt, erreichbar über mehrere gewundene steile Gassen. Offiziell gibt es 300 Betten und inoffiziell 500 Patienten. Die Umstände sind so unbeschreiblich, dass mir die Worte fehlen. Es fehlt am Nötigsten: Hygiene, fließendes Wasser, Medikamente, diagnostische Geräte (weder EKG noch Ultraschall). Der Mangel an diagnostischen Möglichkeiten wird durch die klinische Untersuchung ersetzt, so weit überhaupt möglich.
Die Sprache der Ärzte untereinander ist Bengali und das der Schwestern und der meisten Patienten Nepali. Die Ärzte sprechen sehr gutes, die meisten Schwestern gutes und einzelene Patienten mäßiges English. Aber weil ich eine Art Kuriosität darstelle, sind Ärzte und Schwestern immer bereit zu übersetzen.
Die Patienten stellen die armen und ärmsten Schichten der Bevölkerung da und können es sich nicht leisten, größere Summen für zusätzliche medizinische Behandlung aufzubringen. Das durchschnittliche Einkommen einer Familie liegt bei 1-2 Euro pro Tag, bei manchen weit weniger.

Gynäkologie und Geburtshilfe
Ich begleite Dr. Chaudhuri bei seinen morgendlich und abendlichen Visiten, untersuche die Patientinnen und assistierte im OP u. a. bei Sectios [Kaiserschnitt] und Hysterectomien [Gebärmutterentfernung]. Die restliche Zeit verbringe ich im Kreissaal bei 6-12 Geburten pro Tag. Die Hebammen und Schwestern sind äußerst bereitwillig, mir ihre Kunst beizubringen, sodass ich in diesem Monat an die 15 Geburten selbt geleitet habe. Außerdem erhalte ich einen Einblick in die Neonatologie [Neugeborenenkunde].
Jeden Tag gibt es etwas Neues, sas mir den Atem verschlägt. Oft sind es Komplikationen (Vollbild der Eclampsie [Schwangerschaftshochdruck], Sepsis [Blutvergiftung], Blutungen und Schock), die unter diesen verheerenden Umständen behandelt werden, ohne auch noch einen Ansatz westlicher intensivmedizinischer Betreuung. Weder aussagekräftige Labordiagnostik (nicht einmal Electrolyte) noch bildgebende Verfahren sind machbar.
Dies führt mich zu einer intensiven Begegnung und Auseinandersetzung mit Leben und Tod, was hier untrennbar verbunden ist und den Alltag (wörtl.: jeden Tag) der Menschen hier bestimmt.

Operation Theatre
Dem OT (Operation Theatre) gebührt besonderer Erwähnung, da hier zum einen die erschreckende Misswirtschaft noch deutlicher wird, zum anderen, weil es auch immer was zu sehen gibt und etwas zu machen ist.
Der OT hat drei Tische, die meist gleichzeitig von verschiedenen Fachrichtungen belegt sind. Die Chirurgen entfernen eine Galle, Dr. Mrs. Banerjee, die zweite Gynäkologin führt gerade eine Sektio durch, als am dritten Tisch eine Spinale für eine Hysterectomie gelegt wird. Man steht sich dauernd auf den Füßen herum und an manchen Tagen wird das ganze Treiben von den Schreien eines Patienten auf einer provisorischen Liege übertönt, dessen Amputation versorgt wird.
Als Rahmenbedingungen muss man sich vorstellen, dass es kein fließendes Wasser gibt, nur zwei (funktionierende) Narkosegeräte (die aus Geldmangel manchmal auch mit Äther betrieben werden), normale Glühbirnen als Lichtquelle und manchmal eine Taschenlampe, sollten diese nicht ausreichen; einen Autoklaven [Sterilisationsgerät], der auf dem Gaskocher betrieben wird und vielleicht noch ein oder zwei Patienten, die im Eingangsbereich auf dem Boden liegen, sozusagen in der Warteschlange.

Abschlussbemerkung
Trotz dieser unglaublichen Zustände, dem ganzen Leid und dem vielen Schmerz habe ich so viel Lachen und so viel menschliche Wärme selten erlebt. Meine Famulatur hier in Darjeeling war eine besonders intensive persönliche Erfahrung sowie auch eine unschätzbare praktische Weiterbildung!

Der Pädiater meinte neulich zu mir: "At your place you can't do a single treatment without a row of examinations. Here we have to treat without any [technical] examinations at all. We have to relay purely on our clinical assessment and God will help!"

Elias Engelking, November 2000

PS.: Inzwischen haben wir Darjeeling und sein Krankenhaus nach fuenf Jahren wieder besucht! Lest unseren akuellen Bericht!

Dieser Bericht ist erschienen bei Medi-Learn.









Darjeeling auf dem Bergrücken, Teeplantagen im Vordegrund


Darjeeling auf dem Bergrücken, in der Ferne der Mt. Kanchenjunga in der aufgehenden Sonne


Darjeeling District Hospital: SADAR


Patientensaal


Schwestern und Hebammen bei einer Geburt


Das erste Neugeborene, bei dem ich die Geburt leitete


OT (Operation Theatre)